Geistesblitze kommen nicht aus heiterem Himmel –
kreative Ideen sind das Ergebnis eines komplexen kognitiven Prozesses. Stück
für Stück enträtseln Hirnforscher und Psychologen das Geheimnis schöpferischen
Denkens. (Ein Artikel von
Ulrich Kraft)
Aus: Gehirn
und Geist Spektrum der Wissenschaft / Nr. 4 / Bin ich kreativ / 2004
Dass diese Zeitschrift von 2004 überhaupt
noch in einer Arztpraxis ausliegt, wundert mich zwar, freut mich aber umso
mehr, da die verschiedenen Artikel zum Thema Kreativität auch heute - 13 Jahre
später - nicht minder aktuell sind.
Netterweise hat mir die Sprechstundenhilfe
die Artikel aus der Zeitschrift herauskopiert. Ob man die Artikel oder – besser
- die Zeitschrift noch irgendwo bekommen kann, weiß ich nicht. Aufgrund dessen
habe ich mich entschieden, recht nah an dem Text von Ulrich Kraft zu bleiben. Da
der Artikel aber sehr umfangreich ist, werde ich einzelne Blöcke ganz raus lassen.
Die
zündende Idee – eine schöpferische Kraft
Letztendlich hat mir der Bogen gut
gefallen, den U. Kraft in seinem Artikel "Küss mich, Muse!“ über das Thema
Kreativität spannt.
Angefangen bei einer Situation, die jedem
von uns bekannt vorkommen dürfte. Dem gelegentlichen Unvermögen, Dinge auf den
Punkt zu bringen. Dem Gefühl stecken zu bleiben oder nicht voran zu kommen. In
seinem Fall ist es der Beitrag zum Thema „Kreativität“. Trotz intensiver
Grübelei - unterbrochen von Kaffeepausen, Im-Büro-Herumtigern, und
Aus-dem-Fenster-Starren – und den wachsenden Bergen an Recherchematerial, will
der Funke nicht überspringen. Nebenan sitzt sein Arbeitskollege, der die
schöpferische Kraft offenbar im Überfluss besitzt, denn er illustriert,
konzipiert und entwirft wie ein Weltmeister.
Immer noch auf der Suche nach der
„zündenden Idee“ fragt sich Ulrich Kraft, ob es ihm am Ende vielleicht einfach
an Kreativität fehlt. Er spannt den Bogen weiter und fragt sich, was etwa
Picasso, Einstein, Goethe oder der besagte Kollege haben, das ihm fehlt. Er
macht sich also auf die Suche. Angefangen im 19. Jahrhundert bei Franz Joseph
Gall (1758 – 1828) – einem österreichischen Arzt – der die Überzeugung vertrat,
der kreative Geist müsse sich irgendwo im Gehirn des Besitzers wiederspiegeln. Auch
wenn sich die Hypothesen von Gall als Irrtum erwiesen, ist das Thema
„Kreativität“ heute aktueller denn je, wenn es beispielsweise um innovative
Lösungsansetze für drängende Probleme – etwa die Massenarbeitslosigkeit oder
das kollabierende Rentensystem – geht.
Kreativität
ist keine göttliche Gabe
In unserer Zeit - so U. Kraft - ist die Erforschung
von Kreativität, eine Domäne der Psychologie, da diese Gabe
- Neues zu schaffen - zu den herausragendsten Eigenschaften menschlichen
Verhaltens gehört. Von der Erfindung des Feuers über das Rad und die Buchdruckerei
bis hin zu Penizillin und Kernspaltung – letztendlich wurde unsere evolutionäre
Entwicklung von der Steinzeit bis heute in die Moderne Welt des 21.
Jahrhunderts erst durch einen nie versiegenden Strom kreativer Geistesblitze
ermöglicht. Und wo entstehen all diese Ideen? Im Gehirn.
Unterstützung bekommt die Psychologie von Seiten der Neurowissenschaften. Hirnforscher versuchen mit
unterschiedlichen Verfahren zu ergründen, wo im Geflecht der hundert Milliarden
Nervenzellen der Funke der Inspiration zündet und warum es manchen Menschen so
leicht fällt, geniale Ideen wie am Fließband zu produzieren.
Hoffnungsvoll beschreibt U. Kraft, dass als Quintessenz
der Forschungsergebnisse, Kreativität keinesfalls als göttliche Gabe zu
verstehen ist, sondern dass sich diese durchaus fördern und trainieren lässt. Ins
Gewicht fallen hier zunächst einmal ganz simpel erscheinende Dinge wie Neugier,
der Wille zu staunen, der Mut geistige Mauern nieder zu reißen, und der Glaube,
an die eignen Fähigkeiten.
J.
P. Guilford – Die Unterscheidung zwischen konvergentem und divergentem Denken
U. Kraft geht weiter auf den
amerikanischen Psychologen Joy Paul
Guilford (1897 – 1987) ein, der beobachtete, dass sich Intelligenz mit
ausgeklügelten Tests zwar relativ zuverlässig messen lässt, das Ergebnis aber
nicht die gesamte kognitive Begabung eines Menschen
widerspiegelt. Davon ausgehend entwickelte er Ende der 1940er Jahre ein Modell, des menschlichen Verstandes,
das die moderne Kreativitätsförderung begründete.
Der entscheidende Punkt in Guilfords
Konzept war die Unterscheidung zwischen konvergentem und divergentem Denken. Konvergentes Denken zielt direkt
auf die einzig richtige Lösungsmöglichkeit eines bestimmten Problems ab (Beispiel:
Mathematische Knobelaufgaben à la „Paul hat zwei Äpfel mehr als Peter, Peter hat
doppelt so viel Äpfel wie Hans. Hans hat so viele Äpfel wie Erna und Fritz
zusammen … Wie viele Äpfel hat Paul?“) Laut Guilford erfordern IQ-Tests in
erster Linie konvergentes Denken. Schließlich geht es stets darum, mit Hilfe
der Logik eine orthodoxe Lösung zu suchen, die eindeutig als richtig oder
falsch eingeordnet werden kann. Doch Kreativlinge zeichnen sich vor allem
dadurch aus, dass ihr Geist angesichts eines Problems die angestammten
Denkschemata überwindet und auf neuen Wegen wandelt. Da ist divergentes Denken gefragt, mit
dem Ziel, viele mögliche Lösungen hervorzubringen.
Guilfords Modell zog rasch auch einige
Hirnforscher in seinen Bann. Die Neurowissenschaftler bewegte vor allem
folgende Frage: Wenn das Gehirn zwei so unterschiedliche Denkweisen beherrscht,
liegt es dann nicht nahe, dass diese auch in verschiedenen Hirnregionen
vonstatten gehen?
R.
Sperry – Linke und rechte Hemisphäre verarbeiten nicht die gleichen
Informationen
Roger Sperry revolutionierte das
Forschungsgebiet als er gemeinsam mit Michael Gazzaniga eine bahnbrechende
Entdeckung machte, die Sperry 1981 den Medizinnobelpreis einbrachte: Linke und
rechte Hemisphäre verarbeiten nicht die gleichen Informationen sondern teilen
sich die Aufgaben. In vielen weiteren Experimenten kristallisierte sich nach
und nach heraus, dass für die beiden von Joy Paul Guilford propagierten
Denkweisen tatsächlich zwei verschiedene Teile des Gehirns verantwortlich sind.
Wie Versuche zeigten, verantwortete die linke Hemisphäre konvergente Denkprozesse.
Sie arbeitet logisch, analytisch, rational und zielt auf Details ab. Dafür
fehlt ihr der Blick für die abstrakteren übergeordneten Zusammenhänge. Divergentes Denken hingegen ist die
Stärke der gegenüberliegenden Seite. Sie ist einfallsreicher,
fantasievoller, intuitiver, bevorzugt eine holistische Arbeitsweise und fügt
die Details des Informationspuzzels zu einem Ganzen zusammen.
U. Kraft bringt dazu ein anschauliches Beispiel:
Sie lesen ein Gedicht von Goethe. Dann analysiert die linke Hemisphäre die
Folge der Buchstaben, fügt sie gemäß der logischen Gesetze der geschriebenen
Sprache zu Wörtern und Sätzen zusammen, prüft, ob Grammatik und Satzbau Sinn
ergeben, und erfasst den konkreten Inhalt. Doch erst die rechte Hirnhälfte
macht aus dem Gedicht mehr als eine bloße Aneinanderreihung von Buchstaben, Begriffen
und Sätzen. Sie integriert die Informationen mit eigenen Ideen und
Vorstellungen, lässt im Kopf Bilder entstehen und erkennt die übergeordnete
metaphorische Bedeutung.
Das
Gehirn als Gewohnheitstier
„Warum ist Kreativität so ein seltenes und
gefragtes Gut, wenn doch jeder Mensch eine rechte Hirnhälfte besitzt und damit
grundsätzlich Voraussetzungen für ein stetes Feuerwerk an unorthodoxer Ideen
mitbringt?“ Vielleicht weil man besser sagen sollte – mitbrachte! Denn im
Kindesalter kennt die schöpferische Kraft praktisch keine Grenzen. Ein paar
Handgriffe, jede Menge Fantasie und Vorstellungskraft verwandeln den Küchentisch
und die alte Decke – ruck, zuck – in eine Ritterburg, der Staubsauger mutiert
zum Schlachtross und als Schwert tut es ein Kochlöffel.
Erziehungs- und Bildungsforscher
kritisieren immer wieder, dass spätestens in der Schule vor allem Wert darauf
gelegt wird, die gestellten Aufgaben unbedingt richtig, nicht aber kreativ zu
lösen. Und auch nach dem Schulabschluss verlangt unsere moderne Leistungsgesellschaft
vor allem die Qualitäten des linken Gehirns, also zielgerichtetes logisches
Denken, mathematische Fertigkeiten und Sprachtalent.
Mit der Zeit scheinen wir diese
Vorgehensweisen dann immer mehr zu verinnerlichen – auf Kosten des kreativen
Potenzials. Denn das Gehirn ist ein Gewohnheitstier und greift angesichts eines
Problems lieber auf Bewährtes zurück, als neue, oder zumindest weniger
ausgetretene kognitive Pfade zu beschreiten.
Auf den folgenden Seiten werden weitere
interessante Aspekte beispielsweise den kreativen Prozesses betreffend beschrieben.
Darauf gehe ich ggf. ein andermal ein.
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